Pressetexte

24./25. Februar 2007 - Seite 17

Der Autor Lothar Berg engagiert sich für Gewaltprävention

Keine heile Welt
Von Andrea Gerecke

Als wir uns das erste Mal begegnen, habe ich schon einiges von ihm gelesen und natürlich bei diesen ganz besonderen Geschichten meine vorgefasste Meinung. Wie das eben so ist. Und da steht er nun auf dem Parkplatz am Mariendorfer Damm, neben seinem originellen, quietschgelben Kleintransporter und wir setzen uns auf einen Kaffee ins nahe gelegene Restaurant „Remise“. Ein Kerl wie ein Baum, nicht mehr ganz jung, kurzstruppige, graumelierte Haare und eine kleine, runde Brille im markanten Gesicht. Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, wir würden uns schon eine ganze Weile kennen, obwohl das ja nun überhaupt nicht sein kann. Denn die Welt von Lothar Berg ist eine gänzlich andere, als die meinige und seine Geschichten sind auch ganz andere.
Ich wuchs wohlbehütet im Osten Berlins auf, natürlich ohne Prügel, denn so etwas gehörte nicht zu den Erziehungsprinzipien meiner Eltern. Meine Lehrer förderten mich in alle Richtungen. Er dagegen hat in seiner Kindheit vom Vater und von den Erziehern Schläge eingesteckt und später entsprechend ausgeteilt. Hautnah an der Realität ist das, was er schreibt, unheimlich brutal. Keine heile Welt oder so eine Rosamunde-Pilcher-Idylle mit Herz-Schmerz-Verschnitt. Die Texte sind hart an der Grenze und manchmal gehen sie darüber hinaus. Keine Lektüre für zart besaitete Naturen. Manchmal kann einem richtig elend werden, wenn nicht nur die „Visage demoliert“ oder „die Fresse poliert“ wird. Lebensnah kommt er daher, wenn er aus dem Alltag erzählt, der aus einer scheinbar harmlosen Situation heraus umkippt und in unfassbare Gewalt umschlägt. Gewalt, bei der man lieber wegsieht, wie das die meisten von uns tun. Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen.
Lothar Berg braucht wenig Schlaf. Er ist umtriebig. Joggt regelmäßig, um fit zu bleiben. Sein schwerer Gang hat was, da trägt er Vergangenheit mit sich herum. Ebenso mit den Tätowierungen auf den Armen aus Zeiten, als das noch keine Modeerscheinung war, sondern ein Markenzeichen. Er steht mit beiden Beinen mitten im Leben, von dem er auch so einiges mitbekommen hat, der Mann aus dem Kohlenpott. Genauso gut hätte er in Berlin geboren sein können, die nötige Kodderschnauze hat er gegebenenfalls parat. Die Gosse ist auch so ein Stückchen aus seinem Lebenslauf und die ist im Grunde überall identisch.
Der Ruhrpott war sein erstes Zuhause. Einerseits heimste er gute Noten ein, andererseits glänzte er mit Albernheiten und Klamauk vor den anderen. Ein echter Rabauke eben und da brachte auch das beste Wissen keine Pluspunkte. Eine Rockergruppe gleich um die Ecke, das war seine Welt schon als Zwölfjähriger. Dann auf der Handelsschule schmierte er sich Pomade in die Haare, trug eine speckige Lederjacke und möglichst schmutzige Jeans. Auffallen und anders sein um jeden Preis. Und als ihm dann mal einer von den Kollegen bei seiner Kaufmannslehre das Rauchen verbieten wollte, rutschten ihm nach kurzer Diskussion die Fäuste aus. Das kam natürlich bei den Ausbildern nicht sonderlich an und er flog stehenden Fußes. Unter Gleichgesinnten fand er Anerkennung und Zuspruch und so folgte bei ihm unweigerlich die kriminelle Karriere: Schläger, Einbrecher, Hehler, Lude, Türsteher, Barmann, Tagelöhner, Obdachloser, Häftling. Hier zählten unter den dominierenden Männern Härte und Treue. Damit konnte er sich identifizieren.
1974 - mit Anfang zwanzig – wohnte Lothar Berg schon drei Jahre in Berlin und versuchte in einer Ehe ein so genanntes normales Leben. Aber es ging nicht gut und die Beziehung zerbrach. Weder seine Partnerin noch er waren für diesen Schritt schon wirklich bereit. Das gibt es ja im Leben. Als sich dann die Haftbefehle häuften, musste Lothar Berg 1976 für zweieinhalb Jahre einsitzen. Eine Zeit des Nachdenkens und Lesens. Der Mann sah keine Veränderung auf dem alten Weg, er kannte schon alles aus der Szene, was sollte da Ungewöhnliches kommen. Und er hatte schon immer Interesse an neuen Dingen!
Vom Schipper brachte er es zum Kolonnenführer im Tiefbau, dann betätigte er sich als Kurierfahrer. Er besuchte nach Feierabend verschiedene Lehrgänge. Drückte noch einmal die Schulbank und holte das nach, was er damals als junger Spund kategorisch ablehnte. Fast 20 Jahre war er dann als Transportunternehmer selbständig, bis die Pleite im Jahr 2004 kam. Aber aufgeben? Doch nicht dieser Mann. Zumal die Leidenschaft zur Schriftstellerei schon Anfang der 90er Jahre begann. Warum nicht all das zu Papier bringen und in Geschichten formen, was er da erlebt hatte? Warum nicht andere mit der nackten Realität warnen vor Gewalt? Zumal die zunimmt und im Alltag Einzug hält. „Alte Votze“ sagen inzwischen schon die Erstklässler zu ihrer Lehrerin, die sich nicht wehren darf. Und mit Worten fängt schließlich alles an, also will er diesmal auch mit Worten Einhalt gebieten.

Sein erstes Buch mit der authentischen Lebensgeschichte des Ausbrecherkönigs „Ekke“ Lehmann heißt „Ohne Kompromiss“ und erschien zunächst im Eigenverlag. Inzwischen hat sich Vito von Eichborn dem Text angenommen und eine repräsentative Ausgabe daraus gemacht. Ein Theaterstück, Krimis und Ideen über Ideen hat er in der Schublade. „Fenster der Gewalt“ kam 2005 heraus, eine Sammlung von 26 Kurzgeschichten aus dem Milieu der Ganoven, Kleinkriminellen und Huren. Hier ist „Pikosso Publishing“ der verlegerische Partner von Lothar Berg geworden. Gleichzeitig mit diesem Buch rief der Autor ein Schulprojekt ins Leben und kam seitdem bundesweit mit Jugendlichen ins Gespräch. Der Titel des Buches wird 2003 zum Motto eines Projektes zur Gewaltprävention. Ein Verein mit dem Namen „Fenster der Gewalt“ entsteht. Lothar Berg vermag es, sich namhafte Unterstützung ins Boot zu holen. Ben Becker, Ingo Naujoks, Bianca Karsten, Manfred Lehmann, Frank Kessler, Udo Schenk, Michaela Schaffrath, Ronald Nitschke, Ralf Richter und viele andere engagieren sich für das Projekt. Gemeinsame Auftritte folgen – mit Texten von Lothar Berg (vorgetragen von den Schauspielern), mit Showeinlagen, Feuerschluckern, Bodybildern, Hochseilartisten, mit bildschönen Frauen und starken Männern. Das kommt bei den zumeist jungen Zuschauern an und wirkt nachhaltig. Kraft kann man auch in andere Bahnen lenken – so die Botschaft der szenischen Lesungen und der anschließenden Diskussionen.

Eine enge Zusammenarbeit verbindet Lothar Berg mit Willi Bedarf. „Wort & Blues nennt sich ihr aktuelles Programm und im Untertitel heißt es „Harte Texte und coole Rhythmen für starke Nerven“. Der Musiker Willi Bedarf ist Jahrgang 1939 und ein waschechter Berliner. Viele Jahre arbeitete er als Sozialpädagoge mit jugendlichen Straftätern. Seit seinem 15ten Lebensjahr begleitet ihn die Musik und er spielt alle Saiteninstrumente (nur nicht die Geige), singt dazu in Deutsch und Englisch – Dixieland, Folk, Jazz, Blues … Wenn die beiden reiferen Herren gemeinsam in Aktion zu erleben sind, dann reißt es auch junge Leute von den Stühlen. Bei Johannes B. Kerner und Stefan Raab wurde die Projektarbeit schon vorgestellt. Pfarrer Fliege diskutierte in einer Runde mit dem Autoren, mit Gefängnispädagogen und Psychologen.
„Beim Vereinslogo durchschlägt eine Faust ein Fenster. Aber fünf Finger kann man auch ausstrecken und damit die Hand reichen“, sagt Lothar Berg. Aufmerksam folgt der Mittfünfziger einem im Gespräch. Die Augen blitzen und bleiben interessiert. Er kommt auch und vor allem bei jungen Leuten an, weil er zuhören kann und weil er sie von ihren eigenen Gewalterfahrungen erzählen lässt. Da ist der Altersunterschied schnell vergessen. Die Heranwachsenden wollen sich durchaus austauschen. Sie wollen gefordert und gefördert sein. Was vielen fehlt, sind Ansprechpartner, die sie für voll nehmen, sozusagen dort abholen, wo die Jugendlichen sind. Die ihnen das Gefühl vermitteln, dass man sie braucht und ihre Wünsche und Träume nicht nur Spinnereien sind. Dass sie nicht schon in ihrer Schulzeit aufs Abstellgleis geschoben werden – keine Chance auf eine Lehrstelle, von einem Job ganz zu schweigen. Und wer keine Arbeit und Anerkennung hat, der kommt rasch auf dumme Gedanken, denn natürlich will man trotzdem schicke Markenklamotten tragen, seiner Freundin imponieren und in sein. Auf unzähligen Baustellen ist Lothar Berg aktiv. Neuerdings hat er auch die Gelegenheit erhalten, an Schulen im Ethikunterricht seinen Teil in Sachen Gewaltprävention zu vermitteln: erkennen, begreifen, vermeiden. Er weiß, wovon er redet. Da ist kein Wissen aus Büchern erworben, das sind keine hohlen Phrasen. Das ist knallharte Lebenserfahrung, das ist Authentizität.
Sein Büro liegt in Neukölln. Dort stapeln sich wohl sortiert die Ordner und Kisten bis an die Decke. Manuskripte, Unterlagen zu bisherigen Kontakten, Einfälle für neue Texte. Wenn man mit ihm über ein Thema plaudert, springt er auf und zieht sofort die passende Vorlage aus einer Ecke hervor. Hier lauern Schätze, die auf Veröffentlichung warten. Bei manchen seiner Ideen fühlt man schon einen Filmstoff – aktionsgeladen, voller Spannung. Aber eben häufig mit vorhersehbar tragischem Ausgang, das will die aktuelle Fernseh- und Filmwelt nicht so unbedingt, weil es nicht in die momentanen Formate der Sender passt. Banale Unterhaltung ist eher gefragt. „Cool – ein ganz normaler Arbeitstag“ ist so ein Text, wo die zentrale Handlung mit Wiedererkennungseffekt in der Hauptstadt abläuft und man sich bei der Lektüre zwischendurch fast an Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“ erinnert fühlt. Ein weiteres Projekt ist die Lebensgeschichte von Alexander Czerwinski (Sumo-Alex). Der Roman „Das Filetstück“ über Bestechung und Korruption in der Politik entstand gemeinsam mit Karl Scheithauer und sucht auch noch einen Verleger.
Nur ist das ja mit den Verlagen und den Veröffentlichungen heutzutage so eine Sache. Einerseits macht es die Technik kinderleicht, andererseits leidet die Qualität. Verlage fusionieren, kleinere bleiben auf der Strecke. Und die Elefantenhochzeiten im Buchhandel verbessern die Situation auch nicht gerade. So vereinten sich die Buchhandelskette Hugendubel und das Medienunternehmen Weltbild. Die andere große Buchhandelskette Thalia strebt die Vereinigung mit Buch & Kunst an. Da liegt dann die wirtschaftliche Macht in wenigen Händen und die Buchlandschaft wird sich weiter verändern. Thalia und Weltbild können kraft ihrer Macht mit den Verlagen über höhere Rabatte verhandeln. Große Verlage werden das überleben, kleine wohl kaum. Und im Geschäft bleibt die seichte Literatur, die sich gut verkauft. Bestseller, die nicht immer die Besten sind. Kulturell ambitionierte Texte werden da künftig noch weniger eine Chance bekommen.
„Onkel Berg“ und „Lothar“ haben ihn die Kinder und Halbwüchsigen im vorigen Spätsommer im „Loretta`s“, dem größten Altberliner City-Biergarten, gerufen und ihn in die Mitte genommen. Da stand er wie ein Fels in der Brandung und genoss seine Veranstaltung: die Verleihung des ersten „Chance Award“. Ein Preis gegen Gewalt. Den gab es 2006 erstmals. Initiiert vom Verein „Fenster der Gewalt e.V.“. Mitbürger, die ein Zeichen im Sinne der Gewaltprävention setzen, werden damit geehrt. Diese private Anerkennung will ein öffentliches Signal für Zivilcourage geben: vom Einschreiten bei Gewalttaten bis zur Vermittlung verfeindeter Parteien. Es geht also nicht nur darum, Einzelne oder Gruppen zu ehren, sondern die Gewaltprävention in den Mittelpunkt zu rücken. Jährlich im September wird von nun an der „Chance Award“ in vier Kategorien vergeben. Die erste Kategorie richtet sich an den „Dialog der Generationen“. Hier werden Menschen oder Gruppen ausgezeichnet, die sich nachhaltig für das Gespräch zwischen den Generationen eingesetzt haben. Eine zweite Kategorie hat die „Vermittlung zwischen Konfliktpartnern“ zum Inhalt. Dabei geht der Preis an Einzelne oder Gruppen, die mit ihrem Engagement wirksam und ganz konkret einen Streit, Konflikt oder eine Feindschaft geschlichtet haben. In der dritten Kategorie sind „Projekt, Schule oder Verein“ zusammen gefasst. Und eine vierte Kategorie bedient den Ehrenpreis. Dieser ging 2006 an die Schauspieler Ingo Naujoks und Ben Becker, für ihren jahrelangen Einsatz für den Verein „Fenster der Gewalt e.V.“. Der Pokal selbst ist ein durchsichtiger Würfel auf einem Sockel. In seinem Inneren zeigt ein Hologramm das Logo des Vereins – eine Faust, die die Scheibe eines Fensters durchstoßen hat. (www.chance-award.de)

Die Vereinsarbeit ist schon lange nicht mehr nur die Aufgabe von Lothar Berg, aber eben eine ganz besondere Facette von ihm. Mit ihm engagieren sich viele Menschen, denen das Thema Gewalt nicht gleichgültig ist. (www.fensterdergewalt.org) Die Basis davon – der direkte Kontakt mit den Jugendlichen – bleibt eine aktive Seite von ihm. Und das Leben mit seiner Frau Sabine, die ihm im Laufe der Jahre ganz behutsam etwas von seiner Härte genommen hat, denn manchmal möchte er schon noch mit der Faust auf den Tisch schlagen. Aber über so private Dinge will er eigentlich gar nicht reden.